Das Buch "Praktisch und Nachhaltig"
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- 1. Einleitung
- ERSTER TEIL: TECHNISCHE HERAUSFORDERUNGEN
- 2. Grenzen der industriellen Zivilisation
- 2.1 Ersatz der fossilen Energien durch Erneuerbare
- 2.2 Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch
- 2.3 Kernenergie
- 2.4 Politische Verpflichtungen und Wirklichkeit
- 2.5 Finanzierung der Energiewende, Risiken und Möglichkeiten
- 2.6 Schlussfolgerung industrielle Zivilisation
- 3. Grenzen des grünen Wachstums
- 3.1 Leben mit Wachstumsgrenzen
- ZWEITER TEIL: TECHNISCHE LÖSUNGEN
- 4. 2000-Watt Stadtteile
- 4.1 Ziele der 2000-Watt-Stadtteile
- 4.2 Planung eines 2000-Watt Stadtteils
- 4.3 Soziale Organisation eines 2000-Watt-Ökoquartiers
- 4.4 Mobilität
- 4.5 2000-Watt Stadtteile im Fall einer Epidemie
- 4.6 Implementierte Techniken
- 4.7 Beispiel Quartier Kalkbreite
- 4.8 Finanzen
- 4.9 Zertifizierung von 2000-Watt-Stadtteilen
- 4.10 Beschäftigungslosigkeit und 2000-Watt Gesellschaft
- 4.11 Schlussfolgerung Machbarkeit
- 5. Wege zur nachhaltigen Landwirtschaft
- 5.1 Zentrum und Peripherie von Imperien
- 5.2 Matrix der urbanen Zivilisation
- 5.3 Eigenschaften von Imperien
- 5.4 Produktivistische Agrarpolitik des Imperiums
- 5.5 Nachhaltige Landwirtschaft
- 5.6 Beitrag der Stadtbewohner zur Transformation der Landwirtschaft
- DRITTER TEIL: MENSCHLICHE HINDERNISSE UND MÖGLICHKEITEN
- 6. Grenzen der materialistischen Philosophie
- 6.1 Prämissen der vorherrschenden Philosophie
- 7. Freiheit der Post-Öl Gesellschaft
- 7.1 Freie Maschienen ?
- 7.2 Frei Gedanken
- 7.3 Freiheit der Mächtigen
- 7.4 Negative Freiheit
- 7.5 Positive Freiheit
- 7.6 Nachhaltige Freiheit ?
- 8. Gleichheit von 2000 Watt
- 8.1 Kulturelle Vorstellungen von Gleichheit
- 8.2 Komplexe Gleichheit mit Vielfalt
- 8.3 Einfache Gleichheit von Klonen
- 8.4 Identitäten
- 8.5 Gleichheit des Energieverbrauchs
- 8.6 Historische Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs
- 9. Gemeinschaftssinn für die Post-Öl Gesellschaft
- 9.1 Destruktive Muster für den Gemeinschaftssinn
- 9.2 Gemeinschaftssinn und Genossenschaften
- 9.3 Gemeinschaftssinn des Teilens
- 9.4 Restaurative Justiz
- 9.5 Gemeinschaftssinn durch direkte Demokratie
- 9.6 Verbrüderung mit der Schöpfung
- 9.7 Schlussfolgerung zu Freiheit, Gleichheit, Gemeinschaftssinn
- 10. Macht des Geldes über den menschlichen Verstand
- 10.1 Die Unersättlichkeit von Mammon
- 10.2 Drei Begriffe von Eigentum
- 10.3 Wann sind wir mit unseren Besitzen zufrieden?
- 11. Maschinensklaven
- 11.1 Ganz kurze Geschichte der Sklaverei
- 11.2 Bekämpfung der Sklaverei
- 11.3 Woran sparen Ökonomen?
- 11.4 Schlussfolgerung zu Maschinensklaven
- 12. Schlussfolgerung
- 12.1 Praktische allgemeine Regeln zum Weiterdenken
1. Einleitung
Viele Forscher leisten wichtige Arbeit in unzähligen Bereichen; sie vermehren das Wissen der Menschheit. Dieses Wissen ermöglicht es uns, immer komplexere Gesellschaften zu schaffen, auf die Gefahr hin, die Verbindungen zwischen verschiedenen Wissensgebieten aus den Augen zu verlieren. Experten schreiben Bände über immer spezialisiertere Themen. Mit anderen Worten, Spezialisten schreiben immer mehr über immer weniger. Diese absurde Tendenz würde dazu führen, dass die besten Spezialisten bald alles über fast nichts wissen.
Die Kehrseite der Spezialisierung auf immer engere Bereiche ist, dass die Übersicht über die menschliche Gesellschaft verloren geht. Spezialisten haben kaum noch eine Übersicht über ihr eigenes Kompetenzfeld, geschweige denn über verschiedene Fachgebiete. Deshalb sehen Universitäten oft einen Bedarf, interdisziplinär zu arbeiten. So jedenfalls das Transdisziplinäre Labor der Eidgenössischen Technischen Hochschule, dessen Beiträge zu den 2000-Watt-Stadtteilen in diesem Buch diskutiert werden. Dabei ist es nicht immer einfach Experten aus verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen, da jedes Fachgebiet seine eigene Fachsprache verwendet, welche für den nicht-Fachmann meist unverständlich ist.
Zu Beginn der Covid-19-Krise sagte der französische Philosoph Edgar Morin: „Wie können wir all unser Wissen organisieren und verknüpfen und dabei auch die Ungewissheit integrieren? Für mich zeigt dies einmal mehr den Mangel an unserem Schaffen von Wissen, weil wir auftrennen was untrennbar ist, auf ein einzelnes Element reduzieren, was ein Ganzes formt und sowohl Einheit auch als Vielfalt ist. Die überwältigende Offenbarung der nun erlebten Umwälzungen ist, dass alles, was getrennt schien, in Wirklichkeit miteinander verbunden ist. So verwandelt eine Epidemie alles Menschliche in einer Kettenreaktion in eine allgemeine Katastrophe [1]".
Ohne Überblick ist es schwierig bis unmöglich den richtigen Weg zu finden. Während die einen ökologischen Problemen Vorrang einräumen und ein Schrumpfen der Wirtschaft akzeptieren, erleiden andere Arbeitslosigkeit und Armut und fordern mehr Kaufkraft. Einerseits sollten wir Energie sparen, indem wir kleinere Autos bauen, andererseits sollten wir Luxusautos bauen, weil sich sportliche Geländewagen besser verkaufen und der Industrie mehr Gewinne einbringen. Die einen wollen den Autoverkehr reduzieren, während andere zunehmend aufs Auto angewiesen sind; was übrigens zur französischen Gelbwesten-Revolte geführt hat. Die Mobilität ist nur ein Gegensatz unter vielen zwischen städtischen Zentren und ländlichen Gemeinden. Seit 5000 Jahren lodern solche Konflikte immer wieder auf. Unzählige Windturbinen sollen in Zukunft Großstädte mit Strom versorgen, aber die Anlagen stehen meist in ländlichen Gemeinden. Kapitel 5 zeigt, wie der uralte Konflikt in Zusammenarbeit umgewandelt werden könnte, denn Windturbinen können nicht dauernd von Polizisten bewacht werden, nur weil die Großstädte die ländliche Bevölkerung wie ein feindliches Imperium behandeln. Klimaziele werden nur erreichbar sein, wenn dieser Land-Stadt Konflikt entschärft wird.
Der französische Soziologe Jean Viard sagte am 16. Januar 2020 in einem Nachrichtensender: „Der Pessimismus nährt sich hauptsächlich vom Mangel an Perspektive, die Franzosen wissen nicht, wohin sie gehen“. "Ohne Vision gehen die Leute drunter und drüber", sagte ein König der alten Hebräer gemäß Übersetzung von Chouraqui. Wir riskieren, dass nicht identifizierte Ursachen von Ängsten und fehlende Perspektiven unsere Gesellschaften in politische Extreme treiben, die niemand wirklich will. Anne-Lorène Vernay von der Grenoble School of Management sagte: „Wir sind mental blockiert, weil wir nicht wissen, wie ein angenehmes Leben in einer CO2-freien Gesellschaft aussehen könnte [2]". Da die 2000-Watt-Stadtteile zeigen, wie eine CO2-freie Gesellschaft mit einer angenehmen Lebensweise aussehen könnte, können sie als befreiende Beispiele dienen.
Anstatt mehrere Bücher über einzelne Spezialgebiete zu schreiben, in denen der Leser die Abhängigkeiten nicht sieht, habe ich mich entschieden, in einem einzigen Buch alle Themen zu entwickeln, die den Übergang zur 2000-Watt Post-Öl-Gesellschaft bestimmen. Mein Ansatz ist nicht der eines Forschers, der angesichts eines neuen Phänomens eine neue Theorie sucht, sondern der eines Ingenieurs, der vor einer großen Herausforderung steht und praktische Lösungen für verschiedene Probleme sucht. Die vorgeschlagenen Lösungen sind sowohl technischer als auch soziologischer Art.
Die Kernthese des Buches lautet, dass in einer Demokratie Veränderungen von der Zivilgesellschaft anstoßen werden müssen, da Staaten und Regierungen seit 1990 immer wieder beschließen, die CO2-Emissionen zu reduzieren, diese aber tatsächlich in der gleichen Zeitspanne verdoppelt haben. Seit über 10 Jahren zeigen Teile der Schweizer Zivilgesellschaft durch mehrere 2000-Watt-Stadtteile konkrete nachahmenswerte Lösungen. Diese Stadtteile zeigen auch, dass ohne eine Änderung der Prioritäten der Bewohner ein erfolgreicher Übergang zur klimaneutralen 2000-Watt-Gesellschaft nicht möglich ist. Ohne Prioritäten und Werte zu ändern, werden unsere Gesellschaften den Weg der letzten 30 Jahre fortsetzen: Reduzierung des CO2-Ausstoßes ankündigen und das Gegenteil praktizieren, wenigstens so lange fossile Brennstoffe wettbewerbsfähig sind. Eine kritische Auseinandersetzung mit den dominanten Werten unserer globalisierten Gesellschaften erscheint daher unabdingbar, denn die dominanten Werte beeinflussen die Richtung, die eine Gesellschaft auf dem Weg zur Post-Öl-Gesellschaft einschlagen wird.
Die vergangenen Dürren im Sudan und in Syrien haben bereits vorhandene Spannungen innerhalb deren Bevölkerungen verstärkt. Diese Spannungen führten zum Ausbruch von zwei äußerst tödlichen und zerstörerischen Bürgerkriegen. Den Folgen dieser Dürren hätte jedoch mit verstärkter Solidarität in jedem dieser Länder und dank Hilfe anderer Länder begegnet werden können. Stattdessen verursachten sie Bürgerkriege, welche den Hass verstärkten und das Elend vervielfachten.
Hass zwischen Sunniten und Schiiten, wie er in Syrien zum Ausdruck kommt, geht auf innerislamische Bürgerkriege zurück. Beim zweiten Bürgerkrieg wurde der Clan des vierten Kalifen Ali getötet (680), gefolgt vom dritten Bürgerkrieg, der mit der Vernichtung des Umayyaden-Clans durch die Abbasiden (744-750) endete. Solcher über Jahrhunderte aufrechterhaltene Hass war ein Hindernis für die Entwicklung von Solidarität, welche zur Überwindung der schweren Dürre erforderlich gewesen wäre. Anstatt das durch die Dürre verursachte Leid in der sudanesischen Region Dafur zu lindern, verachtete die Zentralmacht die Stämme des Darfur, wodurch Darfurs Rebellen Unterstützung in der Bevölkerung fanden.
Um den friedlichen Übergang zu einer Post-Öl-Gesellschaft zu schaffen, sollten die vorherrschenden Werte einer Gesellschaft bewusst gemacht werden, denn die vorherrschenden Werte können diesen Übergang erleichtern oder erschweren.
In Abhängigkeit der vorherrschenden Werte einer Gesellschaft kann eine Krise aktive Solidarität erzeugen oder einen Bürgerkrieg auslösen, wenn diese Gesellschaft aus sich gegenseitig hassenden Gruppen besteht und dieser Hass von politischen Machthabern genährt wird. Angesichts großer Probleme klammert sich die regierende Bevölkerungsgruppe an ihre Macht, wie in Syrien, denn sie weiß, dass sie durch den Machtverlust verloren ist, gemäß dem Sprichwort Vae Victis! ... wehe den Besiegten!
Eine weitere These dieses Buches ist, dass ein gutes Verständnis von Freiheit, Gleichheit, Geld und Macht auch unerlässlich ist, um ernsthafte ökologische und soziale Krisen zu vermeiden und stattdessen eine ökologisch und sozial nachhaltige Gesellschaft zu schaffen.
Unsere sogenannte "Lebensstandard" hängt maßgeblich von unserem Energieverbrauch ab, weil der materielle Reichtum größtenteils von Maschinen und automatisierten Fabriken produziert wird, was viel Energie benötigt. Allerdings sind weltweit 80 % der verbrauchten Energien fossilen Ursprungs. Kapitel 2 wird zeigen, warum nicht alle fossilen Energieträger durch erneuerbare oder klimaneutrale Energien ersetzt werden können, die Kosten sind schlichtweg zu hoch. Daher ist es dringend erforderlich, neue Lebensweisen zu suchen, um eine gute Lebensqualität bei wesentlich geringerem Energieverbrauch zu erhalten. Außerdem werden unsere Ressourcen knapp, was den Übergang zur Post-Öl-Gesellschaft konfliktreich machen könnte. Schon bevor unser System an die ökologischen und physikalischen Grenzen des Planeten stößt, sind die Spannungen in unseren Gesellschaften hoch. Eine Vision für eine Post-Öl-Gesellschaft sollte daher auch Überlegungen zum friedlichen Lösen von Konflikten beinhalten, wozu das Justizsystem einiges beiträgt. In Ländern wie Frankreich sind die Gerichte aber bereits überlastet, deren Beitrag zum friedlichen Zusammenleben zweifelhaft und die Gefängnisse überfüllt. Es gibt jedoch eine Form der Gerechtigkeit, die eher zur Versöhnung beiträgt, als die Spannungen in der Bevölkerung zu verstärken. Sie könnte eine bedeutende Rolle beim erfolgreichen Übergang zur Post-Öl-Gesellschaft beitragen. Details dazu in Kapitel 9.
Leider haben unsere individualistischen Konsumgesellschaften die steigende Kaufkraft zu ein Dogma erhoben. Kein Präsidentschafts- oder Kanzler-Kandidat würde gewählt, wenn er einen 30 Jahre dauernden langsamen individuellen Kaufkraftrückgang versprechen würde. In der Post-Öl-Gesellschaft wird aber ein Rückgang der individuellen Kaufkraft entweder freiwillig oder durch natürliche Kräfte erfolgen, mit oder ohne Verlust an Lebensqualität, mit mehr Solidarität oder ausufernden Konflikten, mit einer Klimaerwärmung von 2 °C oder möglicherweise über 4 °C.
Wenn es gelingen soll, eine Post-Öl-Gesellschaft demokratisch, friedlich, ohne Verlust an Lebensqualität, aber durch Verringerung der individuellen Kaufkraft aufzubauen, so sollten wir über die Natur des Geldes und seinen Einfluss auf den menschlichen Geist nachdenken (Details in Kapitel 10).
Die Internationale Energieagentur (IEA) wird nicht müde zu betonen, dass ein Großteil der Energieeinsparungen durch Verhaltensänderungen der Bevölkerung zustande kommen muss. Um eine gute Lebensqualität zu erhalten, sollten wir daher über Werte und Prioritäten nachdenken, welche unsere Entscheidungen als Verbraucher so leiten, dass der Energieverbrauch auf ein nachhaltiges Niveau sinkt.
Das Buch analysiert deshalb die vorherrschende Philosophie unserer Gesellschaft und entwickelt die soziologischen, philosophischen und praktischen Aspekte einer funktionierenden 2000-Watt-Gesellschaft. Das Buch enthält daher praktische Vorschläge, die in mehreren 2000-Watt-Vierteln oder Öko-Gemeinden durchgeführt wurden und die weitgehend in jeder Nachbarschaft eingeführt werden könnten.
Durch die Schaffung von Öko-Quartieren, welche die neuesten Technologien der Niedrigenergiehäuser anwenden, können Investoren und Institutionen einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung des Energieverbrauchs leisten. Grob geschätzt entsprechen solche Öko-Quartiere einer 3500-Watt-Gesellschaft. Die individuellen und gemeinsamen Entscheidungen der Bewohner dieser Öko-Quartiere können dann zu einer 2000-Watt-Gesellschaft führen (Details in Kapitel 4).
Seit einiger Zeit häufen sich schlechte Nachrichten über Biodiversität und Klimawandel und schaffen eine schwere und lähmende Atmosphäre in der Gesellschaft. Bücher wie „Leben in der andauernden Notlage“ (Living in the long Emergency) von J.H. Künstler und „Vor dem Kollaps“ (Devant l’effondrement) vom ehemaligen französischen Umweltminister Yves Cochet, verkünden den baldigen und unweigerlichen Zusammenbruch unserer industriellen Zivilisation. Um den Kollaps zu überstehen, schlagen solche Autoren vor, widerstandsfähige Nachbarschaften mit einem nachhaltigen Lebensstil zu organisieren, was dem Geist von 2000-Watt-Stadtteile entspricht. Die 2000-Watt-Stadtteile wollen aber nicht lähmend wirken, sondern einen ermutigenden Weg in die Zukunft aufzeigen.
Einige der Probleme mögen unüberwindbar erscheinen. Ich teile jedoch den Optimismus von Winston Churchill, der durch den Kampf gegen die unbeschreibliche Brutalität des Dritten Reichs am größten Triumph des 20. Jahrhunderts maßgeblich beteiligt war: "Erfolg besteht darin, von Misserfolg zu Misserfolg zu gehen, ohne die Begeisterung zu verlieren".
Sich unter Zeitdruck befindende Leser können den Texten in Fettschrift folgen, welche die Schlussfolgerungen jedes Arguments zusammenfassen. Wenn der Leser eine Schlussfolgerung nicht nachvollziehen kann, so kann er die vorhergehenden Absätze lesen.
Kapitel 2 mag für einige Leser technisch zu komplex und deshalb langweilig sein. Um dennoch das Kernproblem der Industriegesellschaften zu verstehen, könnten sie sich auf die fett gedruckten Abschnitte beschränken.
2. Grenzen der industriellen Zivilisation
(siehe Auszüge von Kapitel 2. auf der Home-Page)
Auszug aus Kapitel 4:
4. 2000-Watt-Stadtteile - Ökoquartiere
Ursprünglich kam die Idee, das Wohlbefinden mit dem Energieverbrauch zu korrelieren, aus Brasilien, wobei Wohlbefinden nicht mit materiellem Wohlstand verwechselt werden sollte. 1985 fragte sich der brasilianische Wissenschaftler José Goldemberg, wie viel Energie ein Mensch verbrauchen darf, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Er fand heraus, dass Menschen unterhalb einer Schwelle von 1000 Watt pro Person das Gefühl haben, besser zu leben, wenn sie ihren Energieverbrauch erhöhen können. Ist diese Schwelle von 1000 Watt jedoch erreicht, verbessert ein höherer Energieverbrauch die Lebensqualität nicht mehr, das Wohlbefinden nimmt nicht mehr zu [3]. Diese überraschend niedrige Schwelle von nur 1000 Watt wird mit einem Blick auf die Statistik der Selbstmordraten verständlicher. Diese ist in reichen Ländern meistens höher als in armen. José Goldemberg machte die Beobachtungen und Messungen auf der Grundlage des brasilianischen Klimas. Der minimale Energiebedarf für ein angenehmes Leben ist in kälteren Ländern naturgemäß höher.
Ab 1995 hat eine Reihe von Forschern der ETH Zürich die Idee von Goldemberg wieder aufgegriffen. Um es an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen, wurde der Energieverbrauch pro Kopf auf 2000 statt 1000 Watt festgelegt, was ebenfalls dem Weltdurchschnitt von 1995 entsprach. Ursprünglich war die graue Energie [4] der öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen nicht in den 2000 Watt enthalten. Die Berechnungen der Forscher zeigten, dass die 2000 Watt es uns ermöglichen würden, unseren derzeitigen Lebensstandard mit einigen sozialen und wirtschaftlichen Anpassungen aufrechtzuerhalten. Wenn der Energiemix zugunsten erneuerbarer Energien geändert wird, ist dieser Verbrauch außerdem auch nachhaltig.
Ob wir also die Energiefrage in der Post-Öl-Gesellschaft mit den Grenzen der finanziellen Mittel angehen, oder mit dem für ein angenehmes Leben notwendig Energieminimum, oder durch die gerechte Aufteilung begrenzter Ressourcen, so landet man in Ländern mit gemäßigtem Klima immer bei einem Energieverbrauch von etwa 2000 Watt pro Person.
Die Frage nach einem nachhaltigen Lebensstil und einer nachhaltigen Wirtschaft unter dem Blickwinkel der Energie anzugehen, hat mehrere Vorteile gegenüber anderen Definitionen wie die "ökologische Decke", welche Donut Economics Action Lab vorgeschlagen wird. Die 2000-Watt-Grenze ist quantifizierbar, messbar und für die Mehrheit der Bevölkerung verständlich. Jeder Haushalt und jede Nachbarschaft kann regelmäßig Bilanz ziehen und Fortschritte in Richtung eines klar definierten Ziels sehen. Die Definition von 2000 Watt ist praktisch und befähigt die Bewohner, sich einem einvernehmlich erklärten Ziel zu nähern.
Im Folgenden müssen wir zwischen der 2000-Watt-Gesellschaft und den 2000-Watt-Stadtteilen unterscheiden. Die 2000-Watt-Stadtteile sind Vorbilder und Experimentierorte, die der gesamten Gesellschaft den Weg in die Post-Öl-Ära zeigen sollen.
Wenn Europa es ernst meint mit der fürs Jahr 2050 angekündigten CO2-Neutralität und damit mehr oder weniger das Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft anstrebt, dann könnte Europa zum Vorbild für den Rest der Welt werden. Seit zwei Jahrhunderten ist Europa für den Rest des Planeten ein Modell der Wohlstandproduktion, nur ist leider dieses Modell nicht nachhaltig, sondern destruktiv für den Planeten. An diesem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte könnte Europa im Sinne der 2000-Watt-Gesellschaft zum Vorbild für nachhaltige Entwicklung werden. Der Menschheit fehlt es schmerzhaft an positiven Vorbildern und Europa könnte diese Lücke füllen.
Auf diesem Weg sollten allerdings die Europäer keinem Minderwertigkeitskomplex anheimfallen, nur weil das europäische Bruttosozialprodukt (BSP) im Verhältnis zu dem von China oder den USA sinkt. In der Zukunft liegt der wahre Fortschritt darin, eine gute Lebensqualität bei stark reduziertem Energiebedarf zu erhalten. Der bloße Anstieg des BSP ist destruktiv für unsere Zukunft und kein Symbol für Größe. (Photos nicht im Buch).
Das Bruttosozialprodukt steigt auch in einer Gesellschaft, in der immer schwerere Autos sich in immer längeren Staus bewegen, immer mehr Lebensmittel und elektronische Geräte weggeworfen werden, die Anzahl der Verpackungen zunimmt, immer mehr Medikamente konsumiert werden, unnötige chirurgische Operationen durchgeführt werden[5], die Anzahl der Einzelhaushalte zunimmt, die Bürger immer mehr wegen Kleinigkeiten die Justiz bemühen und die Urwälder abgeholzt werden, um für unsere Massentierhaltung Sojabohnen anzubauen. Dies sind keine Zeichen für die Größe einer Kultur, sondern für deren Niedergang.
und das derzeitige Finanzsystem haben unberührte Regenwälder keinen Wert. Diese Urwälder gehen nicht in die Berechnungen des Bruttosozialprodukts (BSP) ein, sie werden von den statistischen Instituten ignoriert. Diese Wälder sind aber die "Lungen der Erde", sie binden viel CO2 und spielen eine wichtige Rolle für das Klima. Gemäß dem "World Resources Institute" (WRI) bindet der Urwald der Republik Kongo 600 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Aber für das BSP eines Landes zählen diese Wälder nichts. Es sollte deshalb niemanden verwundern, dass diese Wälder so behandelt werden, als wären sie wertlos.
Die Internationale Energieagentur (IEA) schreibt in ihrem Bericht „Net Zero by 2050“, dass Veränderungen des menschlichen Verhaltens gleich viel zur Reduzierung der CO2-Emissionen beitragen sollten wie Energieeffizienzsteigerungen in Industrie, Verkehr und Gebäuden zusammen. Um die Klimaneutralität zu erreichen, können zudem zwei Drittel der CO2-Einsparungen nicht ohne die aktive Beteiligung der Bürger erreicht werden [6]. Der IEA-Bericht zeigt die Unmöglichkeit, immer mehr Kaufkraft, Wohnraum, Autos, Luxusurlaub, elektronische Gadgets besitzen zu wollen und gleichzeitig im Jahr 2050 die Klimaneutralität zu erreichen. Die IEA bestätigt somit die Ansicht der ETH und das Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft: Der Lebensstil der Bürger ist entscheidend. Aber um sein Verhalten zu ändern, brauchen Bürger praktische Beispiele, begleitet von politischer, soziologischer und philosophischer Ermutigung. Dieses Kapitel beschreibt deshalb praktische Beispiele für einen klimaneutralen Lebensstil. Wir werden allerdings das Ziel der Klimaneutralität nicht erreichen, ohne zu verstehen, warum der Menschen für sein Wohlbefinden fortlaufend mehr konsumieren möchte. Kapitel 10 zeigt einen anthropologischen Aspekt dieses scheinbar unstillbaren Verlangens nach mehr Geld und zeigt, wie diese menschliche Tendenz gemildert werden kann.
[...] Die Ziele der 2000-Watt-Stadtteile erfordern von Anfang an eine gründliche Planung unter Berücksichtigung vieler Parameter. In allen Bereichen hat Qualität Vorrang vor Quantität, gemäß einem Satz von Saint-Exupéry: "Perfektion wird nicht erreicht, wenn nichts mehr hinzuzufügen ist, sondern wenn nichts mehr zu entfernen ist [um eine bestimmte Funktion zu gewährleisten]".
Eine im April 2021 in Nature veröffentlichte Studie von Gabrielle Adams zeigt, dass 80 % der Menschen es vorziehen, Probleme mit zusätzlichen Mitteln versuchen zu lösen, anstatt eine Komponente, eine Funktion, einen Satz oder eine Idee zu entfernen. Acht verschiedene Experimente haben gezeigt, dass die Teilnehmer selbst vorteilhafte subtraktive Veränderungen nicht erkennen, wenn sie nicht angewiesen werden, über eine Vereinfachung nachzudenken. Diese menschliche Tendenz, nach additiven Veränderungen zu suchen, kann einer der Gründe sein, warum Menschen ihre überfüllten Zeitpläne nicht reduzieren, die Bürokratie nicht vereinfachen und viele schädlichen Auswirkungen ihres Verhaltens auf den Planeten nicht verringern.
4.4. 2000-Watt Stadtteile im Fall einer Epidemie
Die 2000-Watt-Stadtteile haben ein lebendiges soziales Leben, die Bewohner treffen sich in gemeinschaftlichen Räumen und teilen Objekte und Einrichtungen. Deshalb wurde der Einwand erhoben, dass diese Quartiere mit einer im 21. Jahrhundert zu erwartenden Zunahme von Epidemien nicht vereinbar sind. Seit Beginn der Covid-19-Epidemie wird dieser Einwand regelmäßig erhoben, wenn wir auf die Vorteile dieser Stadtteile hinweisen. Nachdem wir jedoch mehrere Sendungen des renommierten Virologen Christian Drosten von der Charité in Berlin gehört hatten, setzte sich die Erkenntnis durch, dass diese Stadtteile leichter durch Epidemien durchkommen könnten als eine individualistische Gesellschaft. Professor Drosten erläuterte unter anderem eine Studie über die Ausbreitung einer Epidemie unter Wüstenmäusen in Kasachstan [7]. Die Studie testete ein epidemiologisches Modell mit tatsächlichen Infektionen, nämlich Yersinia pestis, dem Erreger der Pest. Die Forscher untersuchten dabei das Phänomen der Perkolation [8].
Die untersuchten Laufmäuse leben in Familiengruppen in Tunnelsystemen mit einer Größe von 20 bis 30 Metern Durchmesser. Dieser Raum reicht den dort lebenden Familiengruppen. Die Forscher machten Beobachtungen bis zu vier Kilometer um ein Seuchenzentrum herum. Im Zentrum steht eine Familiengruppe, in welcher der Erreger der Pest beobachtet wurde. Dann suchten die Forscher nach dem Pestvirus bei immer weiter entfernten Familiengruppen. Würde sich diese Krankheit streng nach dem Fortpflanzungskonzept des "R"-Faktors ausbreiten, dann müsste jede Zunahme der Bevölkerungsdichte in einem Beobachtungsgebiet mit einer gewissen Zeitverzögerung überall zu mehr Infektionen führen.
Doch in Wirklichkeit ist der Anstieg der Infektionen nur in der Nähe zum Zentrum zu beobachten. Tiere im Umkreis der ursprünglich infizierten Gruppe zeigen Infektionen. Aber drei Kilometer von der zentralen infizierten Familiengruppe wird eine andere Beobachtung gemacht. Obwohl die Tierdichte und die Größe der Familien rund um die ursprüngliche Gruppe zunehmen, treten in drei Kilometer entfernten Gruppen lange Zeit keine Infektionen auf, trotz der Zunahme von Infektionen bis zu einem Kilometer vom Seuchenzentrum entfernt. Nach einer längeren Zeit treten plötzlich Infektionen in größerer Entfernung vom ursprünglichen Zentrum auf, nachdem die Anzahl der infizierten Tiere zuvor einen Schwellenwert überschritten hat. Und wie ist dieser Schwelleneffekt zu erklären? Familiengruppen von Wüstenmäusen haben nur begrenzten Kontakt miteinander. Manchmal geht ein Tier zu einer Nachbarfamilie, aber im Wesentlichen leben diese Familien isoliert. Damit eine Infektion von Familie zu Familie zu Familie überspringt, ist eine größere Dichte an infizierten Tieren erforderlich. Aber wenn statt zwei Infektionssprüngen zwanzig benötigt werden, dann kann nur eine sehr große infektiöse Masse in der Anfangsgruppe weitere Familien in größerer Entfernung infizieren, unabhängig von der Beobachtungsdauer.
Die Pest der Wüstenmäuse und der Covid-19 sind sich dadurch ähnlich, dass sie sich vor allem zwischen Kontaminationsherden ausbreiten (vor der Omikron-Variante). Es gibt natürlich einzelne Übertragungsketten, aber diese Ketten brechen manchmal ab. Covid-19 wird etwa zwei Tage vor und fünf Tage nach Auftreten der Symptome übertragen. In diesem Zeitfenster breitet sich die Krankheit aus, wenn genügend menschliche Begegnungen auftreten. Man kann sich vorstellen, dass Infektionen an einer Stelle entstehen und erkannt werden. Von dort aus breiten sich die Infektionen nicht weiter aus, weil die Anzahl Verbindungen mit anderen Menschen nicht groß genug ist. Verknüpfen jedoch mehrere individuelle Übertragungen verschiedene Epidemieherde, breiten sich die Ansteckungen schnell aus. Kontaminationen breiten sich also schnell aus, wenn die Anzahl der Übertragungsketten einen bestimmten Schwellenwert erreicht hat. Daher ist es notwendig den Effekt von Schwellenwerten zu kennen, um sich nicht fälschlicherweise in Sicherheit zu fühlen, dass die Epidemie unter Kontrolle ist. Eine scheinbar unter Kontrolle stehende Epidemie kann plötzlich außer Kontrolle geraten und drastische Maßnahmen wie einen allgemeinen Lockdown erfordern. Die Beschleunigung des Anstiegs der Zahl der Covid-19-Kontaminationen im Oktober 2020 überraschte die meisten Fachleute. Diese Ansteckungs-Beschleunigung kann durch den Effekt von Schwellenwerten erklärt werden.
In einer individualistischen Gesellschaft sind die Beziehungs- und Kontaktnetze zwischen Menschen verständlicherweise zu komplex, um sie exakt in ein epidemiologisches Modell zu integrieren. Aber auch wenn die Berechnungen der Schwelle große Unsicherheit aufweist, sollte man sich eines Schwelleneffekts in der Ausbreitung einer Epidemie bewusst sein. Wie Christian Drosten hat auch der französische Epidemiologe Martin Blachier immer wieder auf diesen Schwelleneffekt hingewiesen, ohne allerdings in den französischen Medien ausreichend Zeit zu erhalten, um den Effekt genau zu erklären.
Aus epidemiologischer Sicht könnten 2000-Watt-Stadtteile mit einer Familiengruppe von Wüstenmäusen verglichen werden. Bei einer schweren Epidemie könnten 2000-Watt Nachbarschaften ihre Beziehungen zum Rest der Gesellschaft stark einschränken, ohne sich individuell stark einschränken zu müssen. Im Jahre 2020 arbeiteten viele Bewohner noch außerhalb dieser Stadtteile, aber wenn die Entfernungen zwischen Arbeitsplätzen und Wohnungen im Zuge der Klimaneutralität schrumpfen wird, so wird die Mehrheit der Bewohner wahrscheinlich im eigenen Stadtteil arbeiten. Da diese Stadtteile meistens genug Arbeitsplätze bieten, werden nur wenige Menschen gezwungen sein, außerhalb des Stadtteils zu arbeiten. Wie schon erwähnt gibt es in den Stadtteilen kleine Geschäfte, Kinos, Restaurants, einen Friseur, Ärzte oder ein Gesundheitszentrum, einen Kindergarten und oft auch eine Schule. Im Epidemiefall können die Bewohner somit ein mehr oder weniger normales soziales Leben führen und gleichzeitig den Kontakt zu Außenstehenden deutlich reduzieren. Da Kindergärten und Schulen geöffnet bleiben, wird die Telearbeit der Eltern erleichtert. Da 2000-Watt-Quartiere oft auch Kleinstwohnungen oder Hotelzimmer zu vermieten haben, verfügen diese Nachbarschaften auch über die Mittel, die seltenen Fälle von Infizierten in der eigenen Nachbarschaft zu isolieren. Es ist menschlich wesentlich einfacher, eine infizierte Person in seiner Nachbarschaft zu isolieren, als ihn einem entfernten Hotel einzusperren..
Wenn eine Gesellschaft durch Stadtteile strukturiert ist, die im Seuchenfall mehr oder weniger autonom leben können, sollte die Anzahl Kontaminationen nie jene kritische Schwelle überschreiten, welche eine Epidemie explodieren lässt. Epidemien sollten daher ohne allgemeine Lockdowns unter Kontrolle gehalten werden können, nur die Kontakte zwischen den Quartieren müssten vorübergehend eingeschränkt werden. Da jeder Stadtteil auch in der Lage ist, die geringe Anzahl von mit der "Außenwelt" in Kontakt bleibenden Personen zu testen und zu isolieren, sollte sich eine Epidemie nicht wie im Oktober 2020 in Frankreich explosionsartig ausbreiten können.
Um die Epidemie zu bekämpfen, hat der Virologe Christian Drosten übrigens am 27. Oktober 2020 vorgeschlagen, „kleine soziale Blasen“ zu schaffen. Mitglieder einer "sozialen Blase" reduzieren ihren Kontakt zu Personen außerhalb der Gruppe stark, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Bei Bedarf könnten sich 2000-Watt-Stadtteile in eine „große soziale Blase“ verwandeln, eine Option, die einer individualistischen Gesellschaft nicht zur Verfügung steht. Das Leben kann dann innerhalb dieser "großen sozialen Blase" mehr oder weniger normal weitergehen. Restaurants, Kindergärten, Schulen und andere Dienstleistungen würden während einer Epidemie geöffnet bleiben, jedoch nur für Bewohner des Stadtteils. Eine individualistische Gesellschaft in „kleine soziale Blasen“ zu strukturieren scheint auch in Deutschland trotz der Ermahnung des Virologen nicht funktioniert zu haben. Die Verfügbarkeit vieler Dienstleistungen innerhalb eines Stadtteils verbessert auch das Leben während eines Lockdowns, da die Nachbarschaft nur den Kontakt nach außen reduziert.
Wie gezeigt, erfordert die Bekämpfung einer Epidemie immer gewisse Einschränkungen, die Einschränkungen innerhalb der 2000-Watt-Stadtteile sind nur weniger beeinträchtigend. Leider offenbarte die COVID-19 Pandemie auch unmögliche demagogische Freiheitsversprechen. Es ist ebenso wenig möglich, sich von den biologischen Gesetzmäßigkeiten eines Virus zu befreien wie von den physikalischen Gesetzmäßigkeiten der globalen Erwärmung. Die gemeinsame Nutzung von Objekten und Dienstleistungen in einem 2000-Watt Stadtteil reduziert nicht nur den Verbrauch "grauer Energie", was die globale Erwärmung verlangsamt, sondern gewährt auch Vorteile während einer Epidemie. Natürlich reduzieren die Lebensformen der 2000-Watt-Stadtteile die individuelle Freiheit ein wenig, aber ohne demagogische Freiheitsversprechen. Chesterton, ein englischer Theologe, beschreibt eine ziemlich verbreitete Verwirrung über den Begriff Freiheit so: „Sie können, wenn Sie möchten, einen Tiger aus seinem Käfig befreien; Sie können ihn aber nicht von seinen Streifen befreien. Wer ein Kamel vom Gewicht seines Buckels befreien will, riskiert es von seiner Wesensart als Kamel zu befreien“ [9].
Wir können von unseren eigenen sozialen Konstrukten befreit werden, nicht aber von biologischen und physikalischen Realitäten. Bedauerlicherweise sind viele Missverständnisse über Freiheit so weit verbreitet, dass sie zu einem Hindernis für die Verwirklichung einer demokratischen 2000-Watt-Gesellschaft werden (mehr darüber in Kapitel 7).
Auszug aus Kapitel 11.2
11. Maschinensklaven
[...]
11.2 Woran sparen Ökonomen?
Seit René Descartes wurden Tiere als seelenlose Dinge oder als maschinenähnliche Objekte betrachtet [10]. Heute wenden riesige Industriebetriebe diese Vorstellung mit kartesischer Präzision an. Kaum haben wir die menschliche Sklaverei abgeschafft, setzt die Gottheit Mammon seinen Machtmissbrauch in der Tierwelt fort. Mammon-Anbeter und kultureller Hochmut reduzierten einst Menschen aus anderen Kulturen zu Objekten und nutzten sie als Sklaven aus. Heute ist die Versachlichung des Menschen in unseren Konsumkulturen subtiler, aber unsere Kultur befindet sich auf einem schlüpfrigen Pfad, den der Psychologe Barry Schwarz einst wie folgt formulierte:
„Woran sparen Ökonomen? Diese Frage stellte der Ökonom D.H. Robertson vor 50 Jahren. Seine Antwort: „Der Ökonom spart an Liebe.“ Damit meinte er, dass für ein wettbewerbsorientiertes Marktsystem menschliche Begierde und Profitverlangen für das gesellschaftliche Zusammenleben ausreichen. Liebe ist nicht erforderlich. So können wir als Gesellschaft unter einem Marktsystem mit weniger Liebe auskommen als unter jedem anderen System. Der wettbewerbsorientierte Markt spart an Liebe" [11].
Unser Wirtschaftssystem ist für den Konsum von Objekten optimiert, vernachlässigt aber die Essenz des gesellschaftlichen Lebens, die Qualität menschlicher Beziehungen. Immer mehr Menschen leben allein oder als Alleinerziehende, ein Hinweis darauf, dass es den Menschen immer schwerer fällt, nachhaltige soziale Bindungen aufzubauen und zu pflegen. Ein Drittel der Wohnungen in Frankreich und Japan wird von nur einer Person bewohnt, in Deutschland sind es 40 % und in Schweden 50 %. Heute sind die Armen zwar weniger arm als früher, aber sie leiden mehr unter Einsamkeit. Laut einer 2018 durchgeführten Studie des französischen Meinungsforschungsinstituts BVA, fühlen sich 44 % der Franzosen regelmäßig einsam, 10 % der Bevölkerung befinden sich in einer Situation menschlicher Isolation und die meisten finden es schwierig, über ihre Einsamkeit zu sprechen [12]. Im Falle einer Epidemie mit seinen Lockdowns nimmt auch das psychische Leiden in der Bevölkerung exponentiell zu. Regelmäßige Einsamkeit hat aber Folgen für die Gesundheit der Menschen. Eine Studie in Schweden hat gezeigt, dass 50 % der Menschen ohne starke soziale Bindungen im Vergleich zu Menschen mit solchen Bindungen vorzeitig sterben. Häufige Einsamkeit hat den gleichen Effekt auf die Lebenserwartung wie das Rauchen von 15 Zigaretten pro Tag [13]. Darüber hinaus ist der immer größere Wohnungsbedarf mit der Notwendigkeit der Reduktion der grauen Energie nicht vereinbar. Die individualistische Konsumgesellschaft ist ein Auslaufmodell wenn die globale Erwärmung auf unter 2°C begrenzt werden soll.
Unter Beobachtung dieser gesellschaftlichen Entwicklung haben einige 2000-Watt Stadtteile zusätzlich zu den üblichen Wohnungen "Satellitenwohnungen" geschaffen. Jede "Satellitenwohnung" enthält eine zentrale Küche und ein gemeinsames Wohn-Esszimmer (Foto), das Zugang zu vier kleinen Privatwohnungen bietet. So sind ihre Bewohner weniger einsam, können sich Kosten teilen und sich gegenseitig helfen, sofern sie lernen friedlich und hilfsbereit zusammenzuleben.
Barry Schwartz beobachtet noch weitere unter Ökonomen häufig zu findende Konzepte:
„Mehrere meiner Kollegen der Wirtschaftswissenschaft sagen mir, dass es außerordentlich schwierig ist, das Konzept der Opportunitätskosten an beginnende Wirtschaftsstudenten zu vermitteln. Die Opportunitätskosten einer Aktivität sind der Gewinn, den wir erzielen würden, wenn wir anstatt mit Freunden Zeit zu verbringen gewinnbringenden Aktivitäten nachgehen. Wenn wir zum Beispiel an einem Abend an einem Projekt arbeiten und damit einen Bonus von 500 € erwirtschaften, dann betragen die Opportunitätskosten unserer Entscheidung, den Abend mit Freunden zu verbringen, 500 €".
Indem man alle Aktivitäten mit einem Preis belegt, verwandelt man alles in Konsumobjekte. Beziehungsnetzwerke sind wichtig im Leben und werden in der Post-Öl-Gesellschaft unverzichtbar sein. Doch durch das ständige Nachdenken über Geldwerte und Nutzen zerbrechen Beziehungen und wahre Freundschaften erhalten Seltenheitswert. Freundschaft verpufft, sobald sich eine Freundschaft "nicht mehr lohnt", zum Beispiel wenn ein Freund durch schwere Zeiten geht. Die gleiche Tendenz ist bei Paaren sichtbar, welchen ein gemeinsames Projekt und gegenseitiges Engagement fehlen. Wenn sich der Nutzen eine Beziehung reduziert so wird sie beendet. Die gegenseitigen Versprechen von Brautpaaren haben deshalb oft nicht mehr Wert als die Wahlversprechen mancher Politiker. So sagte zum Beispiel der ehemalig französische Präsident Jacques Chirac: "Meine Wahlversprechen sind nur verbindlich für diejenigen, welche an sie glauben." Das entspricht so ziemlich genau dem Ratschlag von Machiavelli an die Herrscher: "Ein weiser Fürst sollte sein Versprechen nicht erfüllen wenn es ihm schadet" (Der Fürst, Seite 54).
Menschliche Beziehungen brauchen mehr als das Versprechen kurzfristigen Gewinns wie bei börsenkotierten Unternehmen, sie brauchen eine gemeinsame Vision und Engagement. Mitmenschen durch die Brille der Ökonomen zu betrachten bedeutet sie zu Konsumprodukten zu reduzieren. Eine solche Gesellschaft ist besonders schlecht auf die kommenden Umwälzungen vorbereitet, wenn die Zahl der verfügbaren Maschinensklaven unvermeidlich sinkt wird, und ein vernünftiger Wohlstand nur erhalten werden kann, wenn Gegenstände und Dienstleistungen mit Nachbarn, wie in Kapitel 5 beschrieben, geteilt werden.
Außerdem sollte man bedenken, dass die meisten Massaker in Schulen, Universitäten und Einkaufszentren von einsamen jungen Männern ohne Netzwerk von Freunden verübt werden. Nach Ansicht von Präsident Obama kann die amerikanische Gesellschaft diese Massaker nicht effektiv bekämpfen, ohne die Einsamkeit und Unzufriedenheit der Killer mit ihren Mitmenschen zu verringern (Twitter, 23.03.2021).
Fussnoten
[1] ˄ Le Monde, entretien avec Edgar Morin : La crise due au coronavirus devrait ouvrir nos esprits, 20 avril 2020.
[2] ˄ Est Républicain, Sobriété énergétique, « Il nous manque un imaginaire », 28 avril 2021.
[3] ˄ José Goldemberg (Professor für Physik an der Universität von Sao Paulo) in "Basic Needs and Much More with One Kilowatt per Capita", 1985. Dies entspricht einem kontinuierlichen Verbrauch von 1000 Watt, 24 Stunden am Tag. Jedes Produkt braucht Energie, um hergestellt, verpackt und transportiert zu werden. Diese sogenannte "graue" Energie ist auch in diesen 1000 Watt enthalten.
[4] ˄ Die "graue" Energie eines Produktes fällt mehr ins Gewicht, wenn die Lebensdauer eines Produktes kürzer ist, und sie ist größer, wenn ein Gerät in China anstatt in Deutschland hergestellt wird, da die deutsche Industrie mit der gleichen Energiemenge (noch) mehr produziert als die chinesische Industrie. Details im Bericht "International Energy Efficiency Scorecard".
[5] ˄ Ein Beispiel unter vielen: Mehrere tausend deutsche Physiotherapeuten wenden eine Methode von Liebscher & Bracht an und können u.A. etwa 90% der Schulteroperationen und 80% der Knieprothesen vermeiden. Die Methode wird von den Krankenkassen anerkannt. Viele Operationen könnten daher vermieden werden, wäre die Methode europaweit besser bekannt. Dadurch würde das BSP sinken, ... und die Lebensqualität vieler würde sich verbessern. Wenn mehr in Vorbeugung von Krankeiten investiert wird geht das BSP zurück und die Lebensqualität steigt. Siehe auch: https://www.schmerzfrei-salzburg.at/liebscher-bracht-im-klinischen-alltag/
[6] ˄ IEA, Net Zero by 2050, A Roadmap for the Global Energy Sector, Seiten 67 und 68. Ausserdem IEA, average annual CO2 reductions from 2020 in the NZE, Excel Tabelle, Blatt "fig_02_04", years 2046-2050: Behaviour and avoided demand=6339Mt, Buildings efficiency=2112Mt, Industry efficiency=863Mt, Transport efficiency=1901Mt (1Mt = 1 000 000 Tonnen CO2). https://www.iea.org/data-and-statistics/data-product/net-zero-by-2050-scenario
Der 6. Bericht des Weltklimarats schreibt, dass Änderungen bei individuellen Entscheidungen, Lifestyle und nachfrageseitigen Maßnahmen 70 % für die Reduktion der Treibhausgase-Emissionen beitragen müssen.
[7] ˄ Coronavirus-Update no 54 von Christian Drosten auf Radio NDR, bespricht eine Studie veröffentlicht in Nature vom 31/07/2008, The abundance threshold for plague as a critical percolation phenomenon.
[8] ˄ Die Perkolation ist ein kritischer physikalischer Prozess, der für ein gegebenes System einen Übergang von einem Zustand in einen anderen beschreibt. Beispiel: Am Anfang kann man einem Kaffeefilter Wassertropfen hinzufügen, ohne dass Kaffee aus dem Filter fliesst. Solange das Kaffeepulver im Filter nicht mit Wasser gesättigt ist, fliesst kein Kaffee heraus. Nach einiger Zeit kommt dann für jeden Tropfen Wasser, der dem Filter hinzugefügt wird, auch ein Tropfen Kaffee aus dem Filter. Das System "Filter mit Kaffeepulver und Wasser" hat seinen Zustand geändert, nachdem die Wassersättigungsschwelle überschritten wurde.
[9] ˄ G.K. Chesterton, Orthodoxie, Seite 16
[10] ˄ René Descartes, Lettre au Marquis de Newcastle, Novembre 1646
[11] ˄ Barry Schwartz, The Costs of Living, zitiert von Os Guinness, Doing Good and Doing Well.
[12] ˄ https://www.bva-group.com/sondages/les-francais-et-la-solitude-sondage-bva-pour-astree/
[13] ˄ The Economist, The modern household, Nuclear Retreat, 5/12/2020
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